Weibliche Zielgruppen

Queer-inklusive Wohnprojekte. Bedarf, Ziele, Maßnahmen und Potentiale

Daniel Jordan
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Queer-feministische Perspektive

In diesem Beitrag wird die Thematik des Frauenwohnbaus aus einer zeitgenössischen, queerfeministischen Perspektive aufgegriffen und demnach die Binarität von Geschlecht grundsätzlich in Frage gestellt. Es wird erforscht, welche Sichtweisen exkludiert werden, wenn ausschließlich von „Frauen“ gesprochen wird. Im Rahmen dieser Arbeit werden alle Menschen, die durch patriarchale Strukturen diskriminiert werden, wie Frauen*, trans*-Frauen, inter*-Personen, trans*-Personen etc. in den Fokus gerückt. In diesem Sinne wird für diesen Beitrag der Begriff Queer verwendet.

Normativer Wohnbau versus intersektionale Wohnbedürfnisse

Im Vergleich von Ansätzen queer-inklusiver Raumplanung und aktueller Wohnraumproduktion und Planungspraxis zeigt sich, dass Wohnbau durch normative Annahmen und heteropatriarchale Strukturen geprägt ist. Tendenziell wird das Ziel verfolgt, Wohnraum für die heterosexuelle Kleinfamilie zu schaffen und normative gesellschaftliche Strukturen zu reproduzieren.

Bedürfnisse und Raumansprüche vieler mehrfach diskriminierter Gruppen werden weitgehend ignoriert. Dies mag auch daran liegen, dass zu Raumansprüchen und Wohnbedürfnissen insbesondere sexueller und geschlechtlicher Minderheiten aufgrund mangelnder bisheriger wissenschaftlicher Auseinandersetzung wenig bekannt ist. Zunächst werden deshalb aus architekturtheoretischer Perspektive queere Interessen, Lebensentwürfe und Wohn- und Raumbedürfnisse ausfindig gemacht.

Ziele und Potentiale queer-inklusiver Wohnprojekte

Es werden Mechanismen und Potentiale eines queer-inklusiven Wohnbaus aufgezeigt, sowie daraus Kriterien und Planungsmaßnahmen für zukünftige Wohnbauten formuliert. Dazu erfolgt die vergleichende Analyse zweier queer-inklusiver Wohnprojekte: das 2017 fertiggestellte Wohnprojekt Que[e]rbau in der Seestadt Aspern und das 2020 realisierte Wohnprojekt Queer im Quartier in Mainz.

Zunächst wurden die Initiatoren der beiden Wohnprojekte in Interviews zur Konzeption und Entstehung der Projekte, zu Einschreibungen von Queerness in der Architektur und sozialen Struktur sowie zu persönlichen Eindrücken und Erfahrungen befragt. Infolge wurden alle drei Maßstabsebenen Wohnumfeld, Wohnbau und Wohnung der jeweiligen Wohnbauten in Bezug auf Queerness analysiert. Welche soziopolitische Relevanz besitzen diese Projekte?

In den letzten Jahren steigt die Bedeutung von Beteiligungsprozessen und Diversität besonders auf Quartiersebene, was aus queer-feministischer Sicht grundsätzlich zu begrüßen ist. Dennoch werden die Bedürfnisse und Ansprüche geschlechtlicher und sexueller Minderheiten innerhalb dieser Prozesse häufig ausgeklammert.

Wohnprojekt Que[e]rbau, Seestadt Aspern, Wien, 2017

Das Projekt wurde von Andreas Konecny und Roland Hampl initiiert und vom Verein Que[e]rbau Seestadt als Wiens erstes dezidiert queer-inklusives Wohngebäude als Baugruppenprojekt errichtet. Die Wohnwünsche der zukünftigen Bewohner*innen und die Funktionen des Hauses wurden in einem partizipativen Entwicklungsprozess erarbeitet. Die Grundrisse aller 33 geförderten Mietwohnungen wurden individuell entwickelt.

Que[e]rbau, Seestadt Aspern, Wien, 2017. Foto: Verein Que[e]rbau

Wohnungen werden hauptsächlich für Familien produziert und die Familienform, die da im Blick ist, ist eine sehr konservative Vorstellung. Und nachdem wir aus dem Queer-Bereich kommen und auch andere Familienformen kennen und leben wollen, glauben wir, dass verschiedene Wohnformen in einem Haus möglich sein müssten.

Andreas Konecny, Que[e]rbau Wien, im Stadtform Magazin

Que[e]rbau Stiegenhaus als Treffpunkt. Foto: Verein Que[e]rbau

Das Herzstück des Gebäudes ist ein Atrium mit offenem Stiegenhaus und umlaufenden Gängen für Begegnung und Kommunikation. Es gibt einen Co-Working-Space, ein gemeinschaftliches Teehaus mit Seminarraum und Sauna und einen Gemeinschaftsgarten. Der Nachbar_innentreff Yella Yella! dient für Treffen und Veranstaltungen für das ganze Quartier.

Que[e]rbau. Nachbar*innentreff Yella Yella! Foto: Verein Que[e]rbau

Wir wollen mit dem Yella Yella! Nachbar_innentreff ein „Fenster nach außen“ schaffen, einen Ort an dem sich alle wohl fühlen können, unsere Idee des toleranten Zusammentreffens gelebt werden kann und „die Seestadt“ eingeladen wird, dies als niederschwellige Basis für nachbarschaftliche Initiativen und kritische Gesellschaftsdiskurse zu nützen.

Yella Yella! Nachbar_innentreff, Wer sind WIR? Und warum das Ganze?

Wohnmodell Queer im Quartier, Mainz (D), 2020

Der Verein Queer im Quartier wurde 2017 mit dem Ziel gegründet, ein diskriminierungsfreies und generationenübergreifendes Wohnprojekt zu schaffen, auf der gemeinsamen Basis von Toleranz, Akzeptanz und Solidarität. Die Gruppe besteht zwar vorwiegend aus queeren Personen, ist aber auch explizit offen für heterosexuelle Cis-Personen, die in einer verbindlichen Nachbar*innenschaft wohnen und leben wollen.

Queer im Quartier, Mainz-Neustadt, 2020. Foto: Queer im Quartier

„Die Wahlgemeinschaft solle als zentrale Gemeinsamkeit eine Sensibilität für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt besitzen. Dabei wird der Begriff „queer“ verwendet, um nicht in starren (und nicht ausreichenden) Kategorien wie schwul, lesbisch oder trans* zu denken.“

Joachim Schulte, Queer im Quartier

Im Februar 2020 erfolgte die Fertigstellung der 22 Mietwohnungen. Eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Dachterrasse wird als Gemeinschaftswohnung für gemeinsame Aktivitäten und Veranstaltungen sowie als Gästewohnung verwendet.

Queer im Quartier, Mainz. Gemeinschaftlich genutzte Wohnung und Gästewohnung im Dachgeschoss mit Terrasse. Darstellung: Irena Leskaj. Quelle: Wohnbau Mainz

„Die grundlegende Frage war für mich: Was machen queere Menschen, die ja häufig Biografien haben, in denen die Herkunftsfamilie nicht ganz konfliktfrei integriert ist, wenn sie älter sind? Und wenn man sein Leben lang eher die Wahlfamilie gelebt hat, dann liegt es natürlich nahe, eine Form zu suchen, die das auch im Alter anstrebt.“

Joachim Schulte, Queer im Quartier

Queerness in Wohnung, Wohngebäude und Wohnumfeld

Die in den beiden Wohnprojekten enthaltenen Formen von Queerness zeigen sich in allen Maßstabsebenen:  In der Masstabsebene Wohnung besteht die Relevanz in der Schaffung vielfältiger Wohnungstypologien mit möglichst hoher Flexibilität der Grundrisse. In der Maßstabsebene des Wohngebäudes geht es um Sicherheit und Sichtbarkeit queerer Menschen in Bezug auf Gemeinschaft sowie die Organisation der Gemeinschaftsflächen.Die sozialen Gruppenbildungsprozesse fördern Nachbarschaften und die Bildung sozialer Netze, die um Inklusion bemüht sind und Hilfestellung im Alltag bieten.

Die Erweiterung der eigenen Wohnung mit den Gemeinschafts- und Erschließungsflächen sollen einen Safe Space bieten, in dem sich queere Personen offen und ohne Einschränkungen beteiligen können sollten.

In der Maßstabsebene Wohnumfeld besticht der Kontakt zum Wohnumfeld und tragen partzipative, queere Wohnprojekte zu Vielfalt und sozialer Veränderung im Quartier bei. Zusammenfassend zeigt sich, dass besonders drei Aspekte in allen Maßstabsebenen von Wohnbau relevant sind: Mitbestimmungsmaßnahmen in der Projektentwicklung, die Schaffung von Diversität und ein intersektionaler Zugang.

Mitbestimmung in der Projektentwicklung

Partizipative Maßnahmen stellen ein wichtiges Planungskriterium für den queer-inklusiven Wohnbau dar, wodurch einerseits queere Bedürfnisse abgefragt und formuliert, aber auch einzelne Wünsche berücksichtigt werden können. Insbesondere aber spiegeln konsensbasierte Entscheidungsprozesse gesellschaftliche Strukturen wider und führen, wenn keine Gegenmaßnahmen vorhanden sind, zur Unsichtbarmachung queerer Standpunkte.

„Im Gesamten kann man sagen, dass es im Haus 33 Wohnungen gibt, die sehr unterschiedlich aufgesetzt sind und damit dann, selbst wenn Leute ausziehen, auch wieder unterschiedliche Leute nachkommen. Und für manche kommt diese Wohnung dann nicht in Frage, aber für andere sehr wohl. Diese Vielfalt, die jetzt im Haus ist, die ist mit der der Hoffnung verbunden, dass über die Vielfältigkeit der Wohnungsgrundrisse das dann auch so bleibt.“

Roland Hampl, Que[e]rbau Wien

„Von den Wohnungen her war für mich das Interessanteste, dass viele zwar, durch die queere Vorgabe Wohnungen anders zu denken, am Anfang noch sehr offen waren, aber je enger, je weiter man mit der Planung vorangekommen ist, haben sich dann wieder Dinge festgeschrieben, die man vorher in Frage gestellt hat, weil man es sich dann doch nicht so zugetraut hat oder sich vorstellen hat können.“

Roland Hampl, Que[e]rbau Wien

Vielfalt und Diversität in Wohnung, Gemeinschaft und Quartier

Auf allen Ebenen eine möglichst große Vielfalt zu schaffen, ist ein wichtiges Ziel in der queer-inklusiven Planung. Vielfältige Grundrisse für vielfältige Benutzer*innengruppen und queere sowie intersektionale Wohnbedürfnisse ziehen vielfältige Nachmieter*innen an. Gleichzeitig führen sie zu einer Durchmischung der Bewohner*innen und beleben sowohl Gemeinschaftsflächen als auch das Quartier. Dies kann längerfristig zu einem Abbau gesellschaftlicher Normen und einer Attraktivitätssteigerung des Quartiers für Personen abseits von gesellschaftlichen Vorstellungen führen.

Das Projekt will  präsent sein und das Leben im Quartier aktiv mitgestalten mit dem Ziel, durch ehrenamtliche Tätigkeiten im Sozial- und Kulturbereich gemeinsam mit nicht-queeren Menschen einen diskriminierungsfreien Ort zum Wohnen zu schaffen, in dem man sich nicht als Minderheit fühlt.

Joachim Schulte, Queer im Quartier

Intersektionalität

Es wird ersichtlich, dass ein intersektionaler Zugang für eine queer-inklusive Wohnraumplanung unerlässlich ist, um tatsächlich räumliche Inklusion zu leisten. Die breite Auseinandersetzung mit den Wohn- und Raumbedürfnissen queerer Personen kann zudem einen positiven Beitrag für andere Minderheiten leisten, indem auch Mehrfachdiskriminierungen berücksichtigt und alle normativen Annahmen hinsichtlich räumlicher exkludierender Strukturen analysiert und dekonstruiert werden.

Die Wichtigkeit von leistbarem Wohnraum zeigt sich auch anhand der Einkommensverteilung queerer Personen, in welcher lesbische cis-Frauen und insbesondere trans*-Personen stark unter dem österreichischen Schnitt sind, oder wie im Falle von trans* Personen häufig kein eigenes Einkommen haben.

So zeigt sich beispielsweise, dass queere Personen im Alter, mit Fluchthintergrund oder aus schlechten finanziellen Verhältnissen unterschiedliche Bedürfnisse besitzen und andere Formen von Diskriminierung erfahren.

Dadurch, dass im Alter natürlich Kräfte nachlassen und dass man nicht immer die Kraft hat zu sagen, wenn einem etwas nicht passt, ist man einfach in dieser Situation angewiesen, denselben Respekt und dieselbe Wertschätzung zu erfahren. Hier eine Unterstützung zu wissen und deswegen ein solches Projekt zu machen, scheint mir ein sinnvoller Weg zu sein.

Johannes Schulte, Queer im Quartier

Soziopolitische Wirksamkeit

Im queer-inklusiven Wohnbau ist es die Vielfalt an Bewohner*innen, die letztendlich zu soziopolitischen Veränderungen führt.

„Das was wir hier haben, ist das Postulieren des Safe Space, dass Leute, die hier wohnen, sich einfach sicher sein können, dass sie so wie sie sind, so wie sich entwickeln und wie sie gerade auch drauf sind, auf Verständnis stoßen und es Leute im Haus gibt, mit denen man sich darüber austauschen kann, um Lösungen für schwierige Situationen zu finden.“

Roland Hampl, Que[e]rbau Wien

Mittels attraktiver Begegnungsräume kann der Austausch von Bewohner*innen und der weiteren Nachbarschaft unterstützt werden und ins Quartier ausstrahlen. Durch die Diversität mit verschiedenen Lebens- und Wohnformen wird der Horizont der Nachbarschaft und des Quartiers erweitert. Dies führt längerfristig zu einer Normalisierung queerer Lebensentwürfe und reduziert queerphobe Gewalt.

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