Alltagsgerechter, frauengerechter und gendersensibler Wohnbau
Alltags- und frauengerechtes Wohnen hat seit mehr als zwei Jahrzehnten im geförderten Wiener Wohnbau Relevanz. Statistisch gesehen verbringen Frauen mehr Zeit in der Wohnumgebung als Männer. Diese ist für sie nicht nur Erholungsraum, sondern vor allem auch Arbeitsplatz für Betreuungs- und Hausarbeit. Durch die Vielfalt der Tätigkeiten und Aufgaben ergeben sich komplexe Alltagsmuster und Wegeketten. Die Berücksichtigung dieser ist maßgeblich für alltags- und frauengerechte Planung. Baulich-räumliche Aspekte sind als Planungskriterien in der Wiener Wohnbauförderung verankert.
In Polen werden die Begrifflichkeiten dieser Thematik weniger verwendet. 2009 startete die Stadt Breslau mit der Errichtung von Wohnquartieren samt der Umsetzung von hoher Lebensqualität, Offenheit, Funktionalität, Sicherheit und Komfort.
Wohnbau-Analyse und Umfrage
Vier neue, ausgewählte Stadtquartiere in Wien und Breslau werden vergleichend und systematisch auf frauen- und gendersensible Planungskriterien in Wohnumfeld, Wohngebäude und Wohnung untersucht. Dies soll zeigen, inwiefern im polnischen Wohnbau, so wie in Wien, auch baulich-räumliche Gleichstellungsaspekte erfüllt werden.
Es handelt sich um die beiden Wiener Quartiere „In der Wiesen Süd“, (750 Wohneinheiten, 2015-17, 1230 Wien) und „Wolfganggasse” (850 Wohneinheiten, 2019-2022, 1120 Wien) sowie die beiden Breslauer Quartiere „Cztery Pory Roku – Jagodno” (1200 Wohneinheiten, 2002-2020) und „Nowe Zerniki” (117 Wohneinheiten, 2018-19).
Zusätzlich wird mittels einer Online-Umfrage unter 100 Personen zwischen 18 und 30 Jahren in Wien und Breslau untersucht, welches Wissen um und Bedeutung von frauen- und gendergerechtem Planen vorhanden ist und ob Wohnpräferenzen dieser jüngeren Generation den bestehenden frauen- und gendergerechten Planungskriterien entsprechen.
Vier Wohnquartiere im Vergleich
Die analysierten Projekte enthalten alle wesentlichen Merkmale eines frauen- und genderspezifischen Wohnbaus.
Obwohl die Thematik in Polen als eher unbekannt gilt, gelten Schlüsselmerkmale, wie die Prägung von nachbarschaftlichen Kontakten, die Planung flexibler Grundrisse oder die Berücksichtigung täglicher Aufgaben und Hindernisse, mittlerweile als Voraussetzungen für Neubauten. In Breslau liegt der Fokus auf Schaffung von qualitätsvolleren Lebensumfeldern für verschiedene Generationen.
Beide Wiener Projekte setzen stark auf belebte Erdgeschossnutzungen und ein facettenreiches, als auch wohnungsnahes Freiraumangebot. Dabei wird auf flexible Nutzbarkeit der Aufenthaltsorte für jederlei Altersgruppe geachtet. Das Quartier „Wolfganggasse” besitzt eine sehr gute und vielfältige öffentliche Verkehrsinfrastruktur. Das Projekt „In der Wiesen Süd” weist eine Buslinie und eine U-Bahn auf.
Gleichermaßen setzen die beiden Breslauer Projekte auf eine interaktive Erdgeschossnutzung. Auffallend ist, dass allein das Projekt „TBS na Nowych Zernikach” zielgruppenspezifische Wohnmodelle anbietet, wie zum Beispiel, Mehrgenerationen-Wohnen oder Wohnungskonzepte speziell für Senioren. Das Projekt „Cztery Pory Roku” hat eine äußerst klare Abgrenzung privater, halböffentlicher und öffentlicher Räume. Das Sicherheitsgefühl ist durch hohe Überwachung gut.
Analyse der Wohnquartiere auf frauen- und gendergerechte Planung und Umsetzung
Im Folgenden werden die vier Wohnquartiere anhand des erstellten frauen- und gendersensiblen Kriterienkataloges in drei Maßstabsebenen, Wohnumfeld, Wohngebäude und Wohnung analysiert.
Wohnumfeld
Wohngebäude
Wohnung
Online-Umfrage zu Wissen und Bedeutung von frauen- und gendersensibler Planung bei 18 bis 30-Jährigen
In der im Jänner 2021 eigens durchgeführten online-Umfrage wurden insgesamt 100 Personen zwischen 18 und 30 Jahren mit einem Durchschnittsalter von 23 Jahren befragt, davon 54 in Wien (55,6% männlich und 44,4% weiblich) und 46 in Breslau. Die Mehrheit wohnt in einer Mehrzimmerwohnung (Wien 55,6%, Breslau 39,1%), viele wohnen gemeinsam mit den Eltern (Wien 48,1%, Breslau 34,8%). Die Resultate beider Städte ähneln sich in vielen Hinsichten sehr, allerdings bestehen in manchen Aspekten Unterschiede.
Bekanntheitsgrad gendersensibler Planung
„Privatsphäre, uneinsichtige Wohnungen“ „gut beleuchtete Gänge und Wege“ „kurze Strecken zu U-Bahn“ „Erleichterung für Haus- und Familienarbeit“
Aussagen aus der Umfrage in Wien
In Breslau werden mit diesen Begriffen vorwiegend die Gleichberechtigung und die Anpassung an Frauenbedürfnisse assoziiert beziehungsweise damit eine familienfreundliche Gestaltung des Freiraumes verbunden.
„Freizeit- und Kommunikationsangebot für Männer und Frauen“, „Besseres Leben, Freiraum, Kommunikation, Sicherheit“, universeller Freiraum“, „Planen bezogen auf Frauenbedürfnisse“
Aussagen aus der Umfrage in Breslau
Wohnumfeld
Auffallend ist die hohe Relevanz einer guten öffentlichen Verkehrsanbindung (Wien 92,5%, Breslau 78,3%) als auch von Dienstleistungen des täglichen Bedarfs in unmittelbarer Nähe. Das Fahrradnetz spielt für Breslauer hingegen eine untergeordnete Rolle. Die Gewährleistung von Sicherheit im gesamten Areal wird als sehr wichtig empfunden (Wien 85,2%, Breslau 73,9%).
Wohngebäude
Nachbarschaftlicher Kontakt scheint weniger bedeutungsvoll zu sein (Breslau 33%, Wien 18,5%) und ebenso wenig das Angebot von Gemeinschaftsräumen und -flächen für Freizeitaktivitäten. Viel wichtiger ist ein Komplementär-Angebot von Sanitär- und Arbeitsräumen, aber auch von Abstellflächen außerhalb der Wohnung wie ein Keller (Wien 74,1%).
Wohnungen
Hinsichtlich der Wohnungswahl sind das Preis-Leistungsverhältnis und die Verkehrsanbindungen sowohl in Wien als auch in Breslau höchst relevant. Es folgen die Wohnungsgröße und die Umgebung. In beiden Städten sind Barrierefreiheit und Förderung der sozialen Kontakte kaum relevant. Bemerkenswert ist die Bewertung des Angebotes von nutzer*innenspezifischen Wohnmodellen. Für mehr als zwei Drittel der Breslauer*innen ist das Angebot signifikant, jedoch nur für 48,2% der Wiener*innen.
„leistbare, nicht überteuerte Wohnungen“, „preisgünstige Studentenwohnungen“, „Mehrgenerationen-Wohnmodell“
Aussagen aus der Umfrage zu nutzer*innenspezifischen Wohnmodellen
Auch das flexible Gestalten von Grundrissen ist für die Mehrheit der Befragten wichtig (Breslau 91,3%, Wien 58,4%). Die Auswertungen der Umfragen verdeutlichen, dass ein Zugang zum privaten Freiraum als essentiell erachtet wird (Wien 92,5%, Breslau 91,3%).